Leben und Arbeiten auf unsicherem Boden
Um das Verhalten der Märkte und die Welt der Unternehmen zu beschreiben, wird öfter das Akronym VUCA verwendet. Die vier Buchstaben stehen für Faktoren, die die Wirtschaftswelt heute kennzeichnen:
Doch nicht nur Wirtschaftswelt und Märkte sind VUCA geworden. Diese Beschreibung gilt auch für die Biografien vieler Menschen in der Gegenwart:
In der Organisationsentwicklung werden Unternehmen, die angemessen und konstruktiv mit solchen Herausforderungen umgehen können, als „agile Unternehmen“ bezeichnet. Dementsprechend könnte man auf die Individuen übertragen von „agilen Subjekten“ sprechen. Agilität, Flexibilität, Anpassungsbereitschaft und Beweglichkeit werden erwartet. Wer diesen Herausforderungen nicht angemessen begegnen und darauf konstruktiv reagieren kann, läuft Gefahr, existenzielle Belastungen zu erfahren und in Krisen zu geraten.
Die ökonomische und die persönlichen VUCA-Herausforderungen kommen in den Biografien und Lebenswelten von (Klein-) Unternehmern zusammen und verstärken sich wechselseitig. Ihre Lebenswirklichkeit lässt sich mit „VUCA hoch zwei“ beschreiben.
Biografiearbeit für Selbstständige
Eine Handlungskonzeption aus der Pädagogik kann hier Kleinunternehmer, Selbstständige und Freiberufler in ihren Entscheidungen und Planungen unterstützen: die Biografiearbeit.
Ganz allgemein kann dieser Ansatz so beschrieben werden: Biografiearbeit eröffnet Menschen jeden Alters Möglichkeiten des Nachdenkens und Austausches über den persönlichen Lebensverlauf. Der ressourcenorientierte, verstehende Blick in die Vergangenheit hilft, die Gegenwart zu bewältigen und in ihr liegende Chancen zu ergreifen. Die persönliche Zukunft gewinnt an Konturen, und es lassen sich tragfähige Konzepte zu deren Gestaltung entwickeln. Biografiearbeit stellt Lernsettings zur Verfügung, in denen Menschen (alleine, in Begleitung oder in Gruppen) Heilung, Lebensorientierung und Ermutigung erfahren.
Was das konkret bedeutet, sei an zwei Beispielen erläutert:
Die Entscheidung zur Selbstständigkeit
Mache ich mich selbstständig oder bleibe ich in einem – vermeintlich – sicherem Angestelltenverhältnis? Verfüge ich über die notwendigen Kompetenzen, um als Selbstständig:er überleben zu können? Liegt mir das überhaupt? Diese und ähnliche Fragen stellen sich, wenn man sich vor oder im Übergang zur eigenen Unternehmensgründung befindet. Ein Blick in die bisherige Biografie kann helfen, eine tragfähige Entscheidung zu treffen, z.B.
Diese Fragen werden nicht nur zu Beginn der Freiberuflichkeit virulent. Sie werden immer dann bedeutsam, wenn man überprüfen will, ob man auf dem „richtigen“ Lebensweg unterwegs ist.
Ressourcensuche und Krisenbewältigung
In einer „VUCA hoch zwei“-Welt nehmen Krisen quantitativ zu, und sie werden vielgestaltiger. Die biografische Rückschau – im Sinne einer Schatzsuche – kann dem:der Selbstständigen vor Augen führen, wie es mit der eigenen Krisenfestigkeit (Resilienz) ausschaut, z.B.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Biografiearbeit in diesem Sinne, also eine stärken- und ressourcenfindende Schatzsuche, unterstützt die work- und lifeability.
Zum Weiterlesen:
Klingenberger, Hubert & Ramsauer, Erika (2017). Biografiearbeit als Schatzsuche: Grundlagen und Methoden (1. Aufl.). München: Don Bosco.
Klingenberger, Hubert (2017). Biografiearbeit in Beratung und Coaching: Anlässe, Übungen, Impulse. München: Don Bosco.
Raus aus Ohnmacht und Resignation
In den Salzburger Nachrichten ist ein Interview mit meiner wunderbaren Kollegin Rentae Gstür-Arming und mir zu oben genanntem Thema erschienen. Viel Freude bei der Lektüre!
„Wozu lebe ich?“, „Wofür bin ich eigentlich da?“ oder „Was mache ich hier eigentlich?“ Das sind grundlegende, existenzielle Fragen, die wir uns zuweilen in unserem Lebensverlauf, an biografischen Wendepunkten oder in Krisen stellen. In der Sprache der Spiritualität sind dies Fragen nach unserer Berufung, nach einem (möglichen) Auftrag, den wir – von wem auch immer – auf unseren Lebensweg mitbekommen haben.
Berufung – das ist in unsere heutige Sprache übersetzt die Antwort auf Fragen wie „Wer bin ich?“, „Wozu lebe ich?“ oder „Was soll ich tun?“ Wer die Antworten auf diese Fragen findet, spürt Energie und Erfüllung, erlebt Sinn und erhöht die Wahrscheinlichkeit für psychische Gesundheit. In der Berufung zeigt sich die Einmaligkeit und Einzigartigkeit eines jeden Menschen; in ihr sind wir ganz nah an unserem Wesen(tlichen). Wer seine Berufung erkannt hat, der funktioniert nicht mehr einfach so. Berufene folgen nicht mehr zuallererst den Erwartungen und Verordnungen anderer, sie gehorchen ihrer inneren Stimme. Wer seine Berufung erkannt hat, der weiß um seine Einmaligkeit und Würde.
Die Idee, dass jeder Mensch mit einem persönlichen Auftrag auf die Welt gekommen sein könnte, hat eine vielfältige und lange spirituelle Tradition. Die Ordensfrau Pia Gyger spricht hier von einem „Wesensgehorsam“. Angenehmer und einladender formuliert es die Theologin Dorothee Sölle, die Berufung als die Art und Weise versteht, wie „Gott mich geträumt hat“. Auch Berater:innen und Psychotherapeut:innen greifen diese Idee zunehmend auf (z.B. im Rahmen der Logotherapie).
Die eigene Berufung wahrzunehmen und ihr zu folgen, ist nicht immer nur angenehm, das ist kein einfacher Weg. Berufungen sprengen zuweilen das bisherige Lebenssystem, bringen etwas Eingespieltes außer Balance. Andererseits muss die Berufung aber auch nicht unbedingt in die Fremde oder Ferne führen. Die Berufung lässt sich zumeist da realisieren, wo wir im Leben stehen.
Vom Beruf sprechen wir andauernd, von der Berufung nur wenig. Der eigenen Berufung nachzugehen, hat fast eine systemsprengende Wirkung. Denn wir verweigern uns dann eventuell der Funktionalisierung im Arbeits-System. Wir sind dann vielleicht kein Rädchen, sondern eher Sand im Getriebe der Geschäftigkeit.
Die Vorstellung einer Berufung befindet sich also in Reibung mit wirtschaftlichen Verwertungsinteressen: Denn dort sollen die Menschen weniger ihre Individualität leben, sondern sich an wirtschaftliche und industrialisierte Abläufe und Bedürfnisse anpassen. Insofern hätte das Leben der eigenen Berufung auch eine gesellschaftliche, fast revolutionäre Dimension.
Seminarhinweis:
Du hast mich geträumt Gott. Berufung und Biografiearbeit
27.-29. Nov. 2023, Palottihaus Freising
Im bayerischen Landtags-Wahlkampf ist ein Begriff aufgetaucht, den man eigentlich eher in der Biografiearbeit erwarten würde: "Jugendsünde". Doch was ist das eigentlich?
Zunächst einmal könnte man die Jugendsünde als ein abweichendes Verhalten im weitesten Sinne ansehen. Man hat über die Stränge geschlagen ("Da bin ich richtig abgestürzt."), hat sich einen modischen Ausrutscher geleistet ("Das trug man damals so."), hat gegen Regeln oder Gesetze verstoßen ("Und plötzlich war da ein Loch in der Scheibe.") oder hat sich politisch in Bereichen positioniert, die jenseits des freiheitlich-demokratischen Grundkonsens sind/waren.
Interessant ist es, wie man dieses Verhalten im Nachhinein interpretiert bzw. wie es von anderen eingeschätzt wird: War es ein Ausrutscher, ein Ausprobieren, ein Ausloten von Möglichkeiten? Eine Lappalie. Ein Verhalten bedingt durch pubertär-hormonelle Verwirrung?
Ist das abweichende Verhalten aus einer (vermeintlichen) Notwendigkeit heraus erfolgt? ("Ich war jung und brauchte das Geld.")
Oder deutet man eine Jugendsünde als ein Indiz für eine persönliche Eigenschaft (meist eine Schwäche) oder grundlegende weltanschauliche Haltung: "Siehst Du, damals hat man schon erkennen können..."
Wie gehe ich heute mit dieser Lebenserfahrung um? Stehe ich zu meiner Jugendsünde oder schäme ich mich dafür? Möchte ich sie am liebsten geheim halten? Wie gehe ich damit um, wenn andere meine Jugendsünde publik machen und mich damit eventuell beschämen?
Noch interessanter erscheint die Frage, ob jemand etwas aus seiner Jugendsünde gelernt hat und wenn ja, was. Welche Konsequenzen habe ich daraus für mich gezogen? Was wüsste ich heute nicht, wenn mir das nicht passiert wäre? Habe ich eventuell entstandenen Schaden wieder in Ordnung gebracht? Was habe ich über das Thema Verantwortung gelernt?
Und zuletzt eine gedankenspielerische Frage: Was ist eigentlich das Gegenteil von "Jugendsünde"?